Interviews

Christof Hettich ist seit Februar 2015 Vorstandsvorsitzender der SRH, nachdem er über viele Jahre Mitglied des Aufsichtsrates war. Er hat Rechts- und Politikwissenschaften in Freiburg, Würzburg und Mannheim studiert.
Der promovierte Rechtsanwalt ist zudem Senior Partner bei Rittershaus Rechtsanwälte (Mannheim, Frankfurt, München) mit Schwerpunkten Strukturierung, Restrukturierung und Finanzierung von Unternehmen in Zukunftsbranchen (Healthcare, IT, Bildung).
Gemeinsam mit Dietmar Hopp und Friedrich von Bohlen hat er die größte deutsche Beteiligungsgesellschaft für LifeSciences, Healthcare und Gesundheits-IT, die dievini Hopp BioTech Holding & Co. KG, gegründet. Als Aufsichtsratsvorsitzender engagiert sich Prof. Hettich in mehreren, vielfach börsennotierten, Unternehmen der genannten Branchen.

Interview

Welche Werte haben für Sie besondere Bedeutung und warum?

Ich habe Jura und Politikwissenschaften studiert, weil ich eigentlich in die Politik gehen wollte. Vor allem das Verfassungsrecht hat mich sehr interessiert. Daher möchte ich an erster Stelle die Freiheit nennen. Freiheit ist für mich ein sehr wichtiger Wert, denn ohne Freiheit kann es keine Eigenverantwortung geben und diese halte ich für sehr wichtig. Einen hohen Wert sehe ich zudem in der Solidarität, denn Freiheit bedeutet nicht nur Verantwortung für sich selbst, sondern auch für andere.

Vor diesem Hintergrund mag es nicht erstaunen, dass ich ein Freund des Europäischen Gedankens bin. Ein Kontinent, der Jahrhunderte lang Konflikte und unruhige Zeiten erlebte, hat es geschafft, sich in den vergangenen Jahren seit 1945 zu befrieden und eine Gemeinschaft entstehen zu lassen, deren Handeln über das gemeinsame Wirtschaften weit hinausgeht. Das zu erhalten und sich des friedenssichernden Wertes dieser Europäischen Gemeinschaft bewusst zu machen, ist leider wieder dringend geworden.

Hier sehe ich erneut die Verbindung zum Thema Eigenverantwortung. Wenn ich mich als Teil des Ganzen verstehe und sehe, dass ich erst einmal für mich gerade stehen und Verantwortung übernehmen muss, bevor ich dies für andere tun kann, ist schon viel gewonnen. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Anweisungen des Bordpersonals vor dem Abflug. „Im Notfall ziehen sie sich die Sauerstoffmaske über, bevor sie Kindern oder anderen Passagieren helfen.“ Mit anderen Worten: Ich kann anderen nur helfen, wenn ich vorher die persönlichen Voraussetzungen geschaffen habe. Das ist unabdingbar.

 

Mit welchen Werten kann ein Unternehmen langfristig erfolgreich am Markt agieren? Bringt Wertschätzung auch Wertschöpfung?

Ich weiß nicht, ob Wertschätzung allein schon Wertschöpfung bringt. Ich weiß aber, dass es Wertschöpfung kostet, wo Wertschätzung fehlt. Daher sind für mich auch im beruflichen Umfeld Freiheit und Eigenverantwortung die wichtigsten Werte. In einem Unternehmen brauche ich die Eigeninitiative von Mitarbeitern, die sich Gedanken darüber machen, wie sie sich in ihrem Umfeld am besten einbringen können und nicht nur reine Befehlsempfänger sind. Das bedingt allerdings auch Integrität und Loyalität, denn Freiheit kann schnell ausgenutzt werden.

Wir müssen aufpassen, dass sich Wertschätzung nicht in einem freundlichen, aufmerksamen Umgang miteinander erschöpft. Bei dem Thema Wertschätzung geht es vor allem auch um die Anerkennung von Leistung. Menschen möchten etwas Sinnvolles tun und den Wert ihrer Arbeit für sich und das Unternehmen erkennen. Das ist immer stärker zu spüren. Sinn und Wert gehören zusammen.

 

Die Digitalisierung schreitet voran. Brauchen wir neue Werte in unserer neuen digitalen Welt, die gerade mit einer unglaublichen Schnelligkeit unser aller Leben verändert?

Wenn ich von Digitalisierung spreche, meine ich zum einen die technische Komponente, also das Nutzen von Daten und Maschinen. Hier spielt auch die ethische Frage eine Rolle, was es für die Menschen bedeutet, deren Arbeit durch Maschinen ersetzt wird.

Ein weiterer Aspekt betrifft die Schnittstelle von Digitalisierung und Kommunikation. Wenn ich immer anonymer mit meinem Umfeld umgehe, kommt es eben leider bei manchen Nutzern zu einer vollkommen enthemmten Kommunikation. Und wenn ich dem anderen nicht mehr ins Gesicht schauen muss, während ich ihn beleidige, geht viel Selbstreflexion verloren. Hier sollte dringend angesetzt werden: raus aus Echoräumen der sozialen Medien, rein in ein Umfeld, das mich immer wieder zu Selbstreflexion zwingt.

Sich selbst und seine Meinung immer wieder zu hinterfragen, ist ein wichtiger Entwicklungsschritt. Im Internet ist es sehr leicht „Gefolgsleute“ zu finden und auf Meinungen zu treffen, welche den eigenen entsprechen – und diese Einzelmeinungen als gefühlte Mehrheit anzusehen. In großen Konzernen ist es ähnlich. Je höher man in der Hierarchie steigt, desto verführerischer ist der Zuspruch; offene Kritik kommt weniger zur Sprache, verdeckte schon.

Diese Schwierigkeit wird im Zuge der Digitalisierung verstärkt. Die Gesellschaft hat bisher noch nicht wirklich gelernt, damit umzugehen. Wir müssen aufpassen, uns in der digitalen Welt nicht selbst zu verlieren. Es ist wichtig, dass wir offen bleiben, für die Vielschichtigkeit des Lebens. Der Wert der Selbstreflexion erhält im digitalen Zeitalter daher noch einmal eine viel größere Bedeutung.

 

Werteerziehung gehört zu den großen Herausforderungen unserer Zeit. Mit welchen Wertvorstellungen gehen junge Menschen heute ins Leben und sind diese Wertvorstellungen zukunftsfähig?

Ich halte es mit Karl Valentin, der über Kindererziehung gesagt hat: „Erziehung nützt nichts, sie machen eh alles nach“. Das hört sich banal an, aber dieser Ausspruch bringt es im Grunde auf den Punkt.

Gerne erinnere ich mich in diesem Zusammenhang an ein Erlebnis vor einigen Jahren, das zeigt, wie Kinder uns unser Verhalten spiegeln. Meine Tochter war ungefähr vier Jahre alt und wir saßen alle am Frühstückstisch. Plötzlich nahm das Kind, welches noch nicht lesen konnte, eine Zeitung und hielt sie vor sich. Sie versteckte sich sozusagen dahinter. Beschämt schaute ich auf die Zeitung in meinen Händen und legte sie beiseite. Sie hatte mir unabsichtlich den Spiegel vorgehalten.

Wir können noch so viel über Werte reden, wichtiger ist es, sie zu leben. Wir sind alle Vorbilder und sollten entsprechend handeln. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Erwachsene uns klar machen, für welche Werte wir stehen.

 

Korruption, Ränkeschmiede, Vetternwirtschaft: ein Blick auf die globalisierte Welt stärkt nicht gerade das Vertrauen in funktionierende Wertesysteme. Wie können wir in unserer alles andere als perfekten Welt Werte erfolgreich leben?

Jedes Umfeld hat durch soziale, ökonomische oder politische Einflüsse bedingte Schwächen. Schwierig ist es, wenn diese Schwächen nicht mehr wahrgenommen werden. Deshalb heißt es wachsam sein. Eine Gesellschaft darf sich darüber streiten, was erlaubt ist und was nicht. Aber wenig sinnvoll ist es, sich aus welchen Gründen auch immer anderen überlegen zu fühlen oder das berühmte „früher war alles besser“ ins Feld zu führen.

Es gibt nicht den einen Maßstab, an dem alle gemessen werden können. Aber wichtig ist es, selbstkritisch zu bleiben und zu akzeptieren, dass die Gepflogenheiten in einem anderen Land oder anderem Umfeld unterschiedlich sein können. Wenn in einem Land ökonomische Schwächen vorliegen oder Menschen in deutlich schlechteren Verhältnissen leben als wir, sollten wir uns nicht überlegen fühlen. Jemand sieht erst dann klein aus, wenn man auf ihn herunterschaut.

Das heißt nicht, dass ich alles gutheiße. Im Gegenteil. Es gibt Verhaltensweisen, die absolut nicht akzeptabel sind, weil sie meinem Wertekanon und dem Wertekanon unseres Unternehmens nicht entsprechen. In unserem Unternehmen habe ich es allerdings verhältnismäßig leicht, weil wir uns mit Bildung und Gesundheit beschäftigen. Beide sind sehr ethische Bereiche, in denen es immer um Leistung für Menschen geht. Für meine Mitarbeiter spielen Werte daher sowieso eine große Rolle.

Bei all den Diskussionen um Werte und Verantwortung dürfen wir eines nicht aus den Augen verlieren: In einem wohlhabenden Land mit vollen Regalen ist es einfacher, moralisch zu handeln, als in einem Land, in dem Mangel herrscht und die Menschen täglich ums Überleben kämpfen. Korruption hat immer etwas mit Verführung zu tun. Und Verführung gelingt leichter, wenn es keine geordneten Verhältnisse gibt.

Es ist wichtig, dass wir die Verantwortung auch für andere Regionen der Welt erkennen. Warum das so ist, belegt nicht zuletzt die hohe Zahl an Flüchtlingen, die nach Europa strömen. Dieses Problem lässt sich weder durch Grenzzäune noch Mauern lösen. Seit der Konferenz der Vereinten Nationen über nachhaltige Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahr 2012 ist sich ein wesentlicher Teil der Experten einig, dass je ein Grad Erderwärmung 100 000 zusätzliche Flüchtlinge bedeutet, weil diese Menschen einfach keine Möglichkeit mehr haben, in ihren Regionen zu überleben. Das sind Themen, mit denen wir uns in einer globalisierten Welt dringend auseinandersetzen müssen.

 

Welche Persönlichkeit des öffentlichen Lebens hat für Sie wirklich Vorbildfunktion und wenn ja, warum?

Hier möchte ich drei Menschen nennen, die für mich Vorbildfunktion haben, auch wenn kein Mensch fehlerfrei ist und sich der Vorbildcharakter vielleicht nur in bestimmten Handlungen zeigt.

Als absolut vorbildhaft sehe ich den Unternehmer Dietmar Hopp, weil er zeigt, dass ein sehr erfolgreicher, ökonomisch handelnder Mensch zugleich auch soziale Verantwortung übernimmt. Beides schließt sich keineswegs aus.

Zweitens möchte ich Angela Merkel nennen. Es gibt viele Dinge, bei denen ich nicht mir ihrer Politik konform gehe, aber in einer so schwierigen Situation wie der Flüchtlingskrise auch die dringende menschliche Seite des Problems zu sehen, davor habe ich großen Respekt. Obwohl sie befürchten musste, dass die kurzfristige Öffnung der Grenzen für sie später innerparteilich Konsequenzen haben könnte, hat sie ihrer Überzeugung entsprechend gehandelt und keine Konflikte gescheut.

Als Dritten möchte ich den emeritierten Papst Benedikt XVI. nennen, auch wenn ich kein großer Freund von Kirchenorganisationen bin. Ich fand es vorbildhaft, dass er entgegen aller Traditionen den Mut gefunden hat, abzudanken, als er feststellte, dass er nicht mehr die Kraft hatte, um die notwendigen Reformen in der Kirchenorganisation einzuleiten. Das ist aus meiner Sicht verantwortliches Handeln.

Den Blick auf das zu richten, was gelingt, ist in jedem Fall ein guter Ansatz. Insgesamt halte ich es für sehr wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, was eine Gesellschaft zusammenhält und nicht nur Kritik an ihren Kritikern zu üben. Gerade in unserer Zeit, in der die AfD und andere radikale Gruppen zu großen Zulauf erhalten, ist dies ein entscheidender Ansatzpunkt. Wir haben so starke zentrifugale Kräfte, die auf unsere freiheitlich demokratische Gesellschaft einwirken, dass wir ein starkes Gravitationszentrum in der Mitte brauchen. Nur so können wir gegen die ganzen Tiefausläufer steuern, die uns derzeit heimsuchen.

Dieses Interview führte die Journalistin Christiane Harriehausen.